Die größte Katastrophe aller Zeiten

Nein, bei der größten humanitären Katastrophe aller Zeiten geht es nicht um unser Rentensystem. Zwar habe ich vergangene Woche angekündigt, mich damit beschäftigen zu wollen, allerdings kam mir ein Werbeschreiben der Aktion „Deutschland hilft“ dazwischen. In dem Bündnis haben sich vor allem religiöse Hilfsorganisation der abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam (in Order of Appereance) zusammengeschlossen, eine Art abrahamitsche Internationale. Dort las ich, dass sich aktuell die größte jemals dagewesene humanitäre Katastrophe abspiele, mit mehr Flüchtlingen als nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Aussage hat mich ziemlich überrascht. Nicht weil sie von religiösen Hilfsorganisationen aus dem jüdisch-christlich-islamischen Kulturkreis kommt, für die doch eigentlich die Sintflut die größte humanitäre Katastrophe aller Zeiten gewesen sein sollte – oder vielleicht auch die Vertreibung aus dem Paradies. Sondern weil es bei allem Leid sonderbar scheint, dass die aktuellen Kriege und Dürren schlimmer sein sollen als die Weltkriege und vor allem den alltäglichen Hunger der Menschen in den Zeiten vor der Industrialisierung. Das soll das Leid beispielsweise in Äthiopien nicht kleinreden und etwas Geld zu spenden tut fast niemandem weh – es muss ja nicht „Deutschland hilft“ oder eine der beteiligten Hilfsorganisationen sein. Ich persönlich unterstütze seit langem die Deutsche Welthungerhilfe (www.welthungerhilfe.de/spenden.html). Besonders hilfreich sind übrigens regelmäßige Spenden, das erleichtert die Planung.

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Oder hat „Deutschland hilft“ vielleicht recht? Scheint uns nur von Europa aus der Zweite Weltkrieg schlimmer als der Krieg in Syrien? Oder auch der Erste Weltkrieg, bei dem nicht nur viele Soldaten ums Leben kamen, sondern auch zahlreiche Zivilisten, insbesondere im Hungerwinter nach der britischen Seeblockade.

Die Statistik kann dabei etwas helfen, leider allerdings nur begrenzt. Selbstverständlich haben weder Germanen- noch Indianerstämme Buch über ihre Hungertoten geführt. Schätzungen gibt es immerhin zu den Kriegstoten, allerdings kann man über die Qualität streiten.

Größte Massenmorde aller Zeiten
Zahl der Toten durch Gewalt und Gewaltherrschaft (blau) sowie Umrechnung auf die Bevölkerungszahl Mitte des 20. Jahrhunderts. Ausgewählt wurden die drei Ereignisse mit der absolut und die drei mit der relativ höchsten Opferzahl. Die Mongolischen Eroberungen unter Dschingis Khan gehören in beiden Fällen zu den Top 3. Quelle: Matthew White/Steven Pinker

Der Wissenschaftler Matthew White hat in unterschiedlichen Quellen die Zahl der Toten in von Menschen herbeigeführten Tragödien gesammelt. Meist weichen die Zahlen je nach Quelle stark ab, gewählt wurde daher der am häufigsten genannte (Modus) Wert oder der Median, falls es keine eindeutige Präferenz gab.

Der Harvard-Professor Stevan Pinker wiederum hat die Zahlen auf die Weltbevölkerung Mitte des 20. Jahrhunderts umgerechnet, um sie mit dem Zweiten Weltkrieg und der Gewaltherrschaft Maos vergleichbar zu machen, den beiden Ereignisse mit der höchsten Zahl von Toten. Dahinter steht die Überlegung, dass eine höhere Weltbevölkerung natürlich auch mehr potentielle Todesopfer bedeutet – und dass für den Einzelnen ja wichtig ist, wie hoch seine Wahrscheinlichkeit ist zu sterben. Wer in einer Stadt mit 100.000 Einwohnern und zwei Morden pro Jahr lebt, der darf sich sicherer fühlen als jemand in einem Weiler mit zehn Einwohnern, von denen jährlich einer ermordet wird.

Nun kann man die Daten aus gutem Grund kritisch hinterfragen, das räumen sogar die Autoren ein. Die Zahlen zum An-Lushan-Aufstand basieren beispielsweise auf der Differenz zwischen zwei Volkszählungen im alten China, wo der Aufstand vor rund 1.250 Jahren stattgefunden hatte. Die zweite kam zu einer um zwei Drittel niedrigeren Bevölkerungszahl. Weil damals schätzungsweise jeder vierte Mensch in China lebte (heute ist es noch rund jeder fünfte), würde das den Tod eines Sechstels der Weltbevölkerung bedeuten. Auf die Bevölkerungszahl Mitte des 20. Jahrhunderts umgerechnet also von mehr als 400 Millionen Menschen, auf heutige Zahlen sogar von mehr als einer Milliarde.

Allerdings ist es gut möglich, dass die Zahlen zu hoch sind. Zwar verfügt China seit unglaublich langer Zeit über eine gut funktionierende Bürokratie, allerdings war die durch den Bürgerkrieg vermutlich ziemlich in Mitleidenschaft gezogen. Das könnte bedeuten, dass bei der zweiten Zählung viele Einwohner einfach nicht erfasst wurden und die Zahlen auch deshalb so niedrig ausgefallen sind. Ähnliches lässt sich auch für die anderen Konflikte sagen. Die Opferzahlen der Kriegszüge von Dschingis Khan sind womöglich von den zeitgenössischen Geschichtsschreibern überhöht. Alleine 800.000 Menschen soll er bei der Eroberung Bagdads getötet haben, 1,3 Millionen in der orientalischen Stadt Merv. Ob das stimmt ist unklar, relativ sicher erscheint jedoch, dass die mongolischen Krieger bei der Eroberung einer Stadt eine bestimmte Zahl von Einwohnern töten mussten.

Besonders überzogen erscheint mir die Hochrechnung zum Sklavenhandel im Nahen Osten. Die rund 19 Millionen Opfer repräsentieren sicher nur einen Teil des Leides, den die Sklaverei mit sich brachte. Denn auch wer überlebte, führte in der Sklaverei meist kein schönes Leben. Inseln wie Formentera oder Ibiza waren zeitweise ganz oder teilweise unbewohnt. In den Reiseführern heißt es oft beschönigend, Piratenüberfälle hätten den Menschen das Leben schwer gemacht, tatsächlich waren es aber Sklavenjäger, die die Inseln heimsuchten. Offenbar passt es nicht zum Selbstbild vieler Europäer, dass die Verwandten ihrer Vorfahren nicht anders auf Sklavenmärkten verkauft wurden, als später afrikanische Sklaven an andere Verwandte ihrer Vorfahren.

Dass viele Kirchen auf den Balearen aussehen wie Festungen, hat einen Grund. In ihnen verschanzte sich die Bevölkerung bei Piratenangriffen. Wobei die Bezeichnung Sklavenjäger besser wäre, denn große Schätze hatte die Landbevölkerung nicht. Gesucht wurden stattdessen Sklaven. Bild: Nacho Pintos
Dass viele Kirchen auf den Balearen aussehen wie Festungen, hat einen Grund. In ihnen verschanzte sich die Bevölkerung bei Piratenangriffen. Wobei die Bezeichnung Sklavenjäger besser wäre, denn große Schätze hatte die Landbevölkerung nicht. Gesucht wurden stattdessen Sklaven. Bild: Nacho Pintos

Nun sind diese Opfer vermutlich gar nicht in den 19 Millionen enthalten, den sie wurden nicht in den Nahen Osten, sondern nach Nordafrika verkauft, darunter auch der spanische Schriftsteller Miguel de Cervantes Saavedra, der Autor des Don Quichote. Warum mir die hochgerechnete Opferzahl von 132 Millionen trotzdem übertrieben erscheint? Weil sich die Sklaverei über einen Zeitraum von mehr als 1200 Jahren erstreckt. Rechnet man die Einwohnerzahl hoch, müsste man das auch für den Zeitraum tun. Das soll die Tragödie nicht kleinreden, der Anteil der Erdenbürger die in einem bestimmten Jahr Opfer der Sklavenjäger wurden war aber sicher kleiner als der derjenigen, die im Jahr 1917 Opfer des Ersten Weltkriegs wurden.

Das zeigt auch, dass die Betrachtung einzelner Ereignisse uns nicht weiterbringt. „Deutschland hilft“ bezieht seine Aussage ja nicht auf ein einzelnes Ereignis, sondern auf die Kombination verschiedener Katastrophen wie des Bürgerkriegs in Syrien oder der Dürre in großen Teilen Afrikas. Hundert gleichzeitig stattfindende kleine Kriege können genauso viele Menschen töten wie ein großer.

Deutschland hilft Kritik
Die Lebensmittelproduktion reicht, um alle Menschen zu versorgen.

Außerdem erfasst die Statistik von Matthew White nur menschengemachte Katastrophen. Ich erinnere mich als Jugendlicher eine Moorleiche in einem Museum gesehen zu haben. Das Mädchen war elf Jahre und hatte nach Schätzungen von Wissenschaftlern mindestens neunmal längere Zeit gehungert. Hunger gehörte auch in Europa jahrhundertelang zum Leben – oder beendete es.

Egal ob der An-Lushan-Aufstand also zwei Drittel oder „nur“ die Hälfte der Bevölkerung tötete, ob die Jahre damals wirklich die schlimmsten der Weltgeschichte waren oder ob zu anderen Zeiten ein weitaus höherer Anteil von Menschen in vielen kleinen Kriegen umkam oder ob Krankheit und Hunger nicht weitaus mehr Menschen getötet haben als Kriege, die größte humanitäre Katastrophe erleben wir aktuell sicher nicht. Selbst in den ärmsten Ländern der Welt leben die Menschen heute meist länger und sicherer als vor 100 Jahren.

Aber kann man nicht von den Werbetextern des Verbandes wenigstens sagen, dass sie zu einem guten Zweck schwindeln? Nein, leider nicht mal das. Statt von der größten humanitären Katastrophe zu sprechen wäre es sinnvoller darauf hinzuweisen, dass zumindest Hungersnöte heute eigentlich nicht mehr sein müssen. Die Welt hat, anders als früher, die Möglichkeit sie zu verhindern. Bei Kriegen und Diktaturen bin ich mir nicht so sicher, ob die Weltgemeinschaft die von außen lösen kann. In der Vergangenheit ist das oft schief gegangen, zuletzt beim Sturz Saddam Husseins im Irak. War das nur schlecht gemacht oder müssen solche Impulse von innen kommen? Ich weiß es nicht. Aber zumindest Hungersnöte müssen heute nicht mehr sein, wenn das Land ansonsten friedlich ist und ausländische Hilfe duldet. Das hätte man bei „Deutschland hilft“ schreiben können.

Mit ihrem Gerede von der größten humanitären Katastrophe mag die Organisation kurzfristig ihre Spendenbüchsen füllen, aber was kommt dann? Dann müssen die Superlative noch größer werden. Nicht zuletzt spielt man mit derlei Gerede rechtsextremen Kräften in die Hände. Egal ob Islamisten oder Nationalisten, sie alle werben mit dem Versprechen, die schlechte neue Zeit durch die Wiedereinführung der guten alten Zeit zu ersetzen. Sollten diese Kräfte Erfolg haben, könnte „Deutschland hilft“ vielleicht zur Recht von der größten oder zumindest einer großen humanitären Katastrophe reden, denn zur guten alten Zeit gehört für Rechtsextreme weltweit die Ausrottung von Menschen anderen Glaubens, anderer Ethnie, anderer Überzeugungen und anderen Aussehens.

Sie dazu auch den Nachtrag zur Entwicklung des Welthungers seit 1990

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