Die Vermessung der Demokratie

Kann man Demokratie messen? Und wenn ja, wie entwickelt sie sich? Aktuell sieht es nicht gut aus. Die Türkei scheint in Richtung Diktatur zu wandern, leider offenbar mit Zustimmung eines großen Teils der in Deutschland lebenden Türken. Ich habe ja in der Vergangenheit bereits geschrieben, warum man aus dem Wahlerfolg Erdogans in Deutschland nicht auf die Einstellung aller hier lebenden Türken und schon gar nicht der türkischstämmigen Deutschen schließen kann, habe aber ehrlich gesagt erwartet, dass das Referendum mehr Demokratiebefürworter unter den Türken hierzulande mobilisieren würde. Das war leider nicht der Fall.

Infografik: So stimmten Türken weltweit ab | Statista Mehr Statistiken finden Sie bei Statista

Wie also steht es um die Demokratie? Dieser Frage will ich in den nächsten vier Beiträgen nachgehen. Da ich aktuell wenig Zeit habe, werde ich alle zwei Wochen statt wöchentlich einen Beitrag veröffentlichen. Der erste, heutige Artikel wird sich um das Thema Demokratiemessung drehen. Im zweiten geht es die Entwicklung der Demokratie. Schließlich in Teil drei und vier um deren Bedrohung, einmal von außen, was aktuell vor allem Terrorismus bedeutet und dann von innen durch die Wahl antidemokratischer Politiker.

Kann man Demokratie messen?

Demokratie zu messen ist nicht ganz trivial. Der Entwicklungsökonom Paul Collier von der University of Oxford erinnert in seinem Buch „Gefährliche Wahl“ daran, dass Wahlen alleine noch keine Demokratie machen, ja das sie in einigen Teilen der Welt sogar mehr Probleme geschaffen als gelöst haben. Deshalb reicht es nicht zu zählen, in wie vielen Ländern das Staatsoberhaupt gewählt wird.

Ausrichtung am
Gemeinwohl Eigennutz
Zahl der Herrschenden Einer Monarchie Tyrannis
Wenige Aristokratie Oligarchie
Viele Demokratie Olchokratie

Schon in der klassischen griechischen Staatstheorie von Polybios (um 200–118 v. Chr.) machte man da Unterschiede. Das Ergebnis ist eine Matrix, bei der auf der einen Seite die Ausrichtung und auf der anderen die Zahl der Herrschenden steht.

Das erinnert auf den ersten Blick etwas an die Unterscheidung von Daron Acemoğlu. Der türkisch-armenisch-US-amerikanische Ökonom hat eines der am meisten beachteten Bücher zu der Frage geschrieben, warum einige Staaten reich und andere arm sind. Seiner Meinung nach liegt das vor allem daran, ob Institutionen inklusiv oder exklusiv sind, also ob sie vor allem den Reichtum des Staates in die Taschen einzelner lenken oder möglichst viele Menschen daran beteiligen sollen. Der vorhin zitierte Entwicklungsökonom Paul Collier sieht noch ein paar weitere Einflussfaktoren, stimmt Acemoğlu aber grundsätzlich zu.

Polybos denkt aber weniger an die Institutionen, als vielmehr an die Bürger selbst. Denken sie bei der Wahl nur an die nächste Rentenerhöhung oder auch an die Zukunft des Landes, an sozialen Ausgleich und sogar die Menschen anderer Länder?

Die meisten Konzepte zur Demokratiemessung greifen deshalb auf dieses Konzept auch nicht zurück. Zumal eine eindimensionale Skala auch immer leichter zu vermitteln ist als eine mehrdimensionale. Ich stelle hier schon mal ein Konzept vor, auf das ich später noch zurückkomme, nämlich die Unterscheidung in

  • Autokratie,
  • Anokratie und
  • Demokratie.

Dabei ist die Anokratie eine Mischform aus Demokratie und Autokratie, der später noch vorgestellte Polity IV Index bewertet beispielsweise Russland als Anokratien.

Demokratiemessung am Beispiel des Democracy Barometer

Das Democracy Barometer der Universität Zürich und des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) hat zwei Vorteile. Es ist sehr umfangreich und bietet eine Beschreibung in deutscher Sprache an.

Der Kriterienkatalog ist etwas komplex, neben Wahlen spielen auch Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit und Transparenz eine große Rolle. Die wichtigsten Zutaten für eine erfolgreiche Demokratie haben die Forscher in drei Blöcke gegliedert, nämlich

  • Freiheit,
  • Kontrolle und
  • Gleichheit.

Diese Oberbegriffe gliedern sich dann immer weiter auf, Freiheit beispielsweise in die Bereiche individuelle Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit und Öffentlichkeit, wobei die Öffentlichkeit wieder in Meinungs- und in Versammlungsfreiheit untergliedert wird und diese dann wieder weiter.

Am Ende steht eine Liste von Variablen, die jeweils verschiedene Werte annehmen können. Da gibt es beispielsweise die Variable Neutrnp. Sie gibt den Anteil der Zeitungen am Zeitungsmarkt an, die als politisch neutral gelten. Keine Frage, da gibt es natürlich einigen Spielraum.

Infografik: Journalisten hinter Gittern | Statista Auch das Thema Presse- und Meinungsfreiheit spielt bei den Demokratierankings üblicherweise eine Rolle. Mehr Statistiken finden Sie bei Statista

In dem beschriebenen Index erhält Deutschland 63 von maximal 100 Punkten, damit schneidet es besser ab als Frankreich (46 Punkte) oder die USA (52 Punkte), aber etwas schlechter als Spitzenreiter Dänemark (72 Punkte).

Demokratiemessung am Beispiel Polity IV

International verbreiteter und auch zeitlich weiter zurück reichend als das Democracy Barometer ist aber der amerikanische Demokratieindex Polity IV. Eine neue Version Polity V ist aktuell in Arbeit. Dahinter steht das Center for Systemic Peace aus Wien, allerdings Wien oder genauer gesagt Vienna in Virgina. Finanziert wird das Polity IV Projekt zum Teil über die Political Instability Task Force und damit den Nachrichtendienst CIA.

Schneiden die USA deshalb so gut ab? Laut Polity IV sind die USA seit dem Zweiten Weltkrieg durchgehend eine Musterdemokratie mit 10 von 10 Punkten, obwohl dort bei Präsidentenwahlen mehrfach der Kandidat mit weniger Stimmen gewonnen hat. Frankreich dagegen kommt auf nur neun Punkte, in den 1950er und 1960er Jahren war es nach Definition der Forscher zeitweise sogar nur eine Anokratie. Aber dazu mehr im nächsten Beitrag.

Wie misst Polity IV die Demokratie? Hier gibt es aktuell sechs verschiedene Dimensionen, in Klammern der Name der Variable:

  1. Einschränkung und Regulierung der Wahl des Regierungschefs (XRREG) – wie transparent und geregelt ist die Wahl des Regierungschefs?
  2. Wettbewerb um die Regierungsmacht (XRCOMP) – gibt es Wahlen?
  3. Offenheit im Wettbewerb um die Regierungsmacht (XROPEN) – wie offen ist die Rekrutierung des Regierungspersonals?
  4. Entscheidungsregelungen und Auflagen der Exekutive (XCONST) – ist die Macht der Exekutive durch Auflagen beschränkt, gibt es Gewaltenteilung?
  5. Regulierung der politischen Partizipation (PARREG) – können sich Parteien und Bürgerinitiativen problemlos gründen oder konkurriert eine feste Gruppe exklusiv um die Regierungsmacht?
  6. Qualität des politischen Wettstreits (PARCOMP) – wird der politische Wettstreit unterdrückt, beispielsweise durch die Inhaftierung von Gegnern?

Für jede Variable gibt das Codebuch bestimmte Möglichkeiten vor. Die Beobachter vergeben also nicht nach freiem Ermessen eine Note, sondern ordnen jedes Land bei jeder Variable einer Gruppe zu.  Bei der Variable XROPEN gibt es beispielsweise vier Möglichkeiten, nämlich

  1. Ernennung des Regierungschefs oder Vererbung des Amtes,
  2. Doppelspitze: Ein Amt wird vererbt, das zweite durch Ernennung besetzt,
  3. Doppelspitze: Ein Amt wird vererbt, das zweit durch Wahl besetzt,
  4. Wahl oder Auswahl durch ein Gremium.

Die Logik der Variablen an einem Beispiel

Bei dieser Variable ist also die Wahl durch das Volk nicht entscheidend, es geht nur um die Frage, ob jeder das Amt bekleiden kann. Die DDR wäre hier also, wie die Bundesrepublik, in die vierte Kategorie eingestuft und als offen klassifiziert worden. Schlechter abgeschnitten hätte sie beim ersten Punkt, bei der Regulierung der Wahl des Regierungschefs. In der Bundesrepublik ist der Prozess reguliert, die DDR würde man dagegen in die mittlere der drei Gruppen einordnen, die im englischen Designational/Transitional heißt, der Regierungschef wird dabei ernannt. Die dritte Form wäre das Fehlen jeglicher Regelungen.

Wohnen
Die DDR war zwar nicht demokratisch, aber der Wahlprozess war zumindest einigermaßen reguliert und jeder konnte theoretisch Ministerpräsident werden. Foto: Felix O.

Dafür würde das Deutsche Kaiserreich bei dieser Variable als reguliert eingestuft. Denn die oberste politische Instanz, der Kaiser, wurde nicht von einem Zentralkomitee bestimmt, sondern es war genau geregelt, wer Kaiser wurde: Der älteste Sohn des alten Kaisers. Dafür würde das Kaiserreich bei der Variable XROPEN schlechter abschneiden, denn nicht jeder kann Kaiser werden. Und beide würden bei der zweiten Variable XRCOMP als undemokratisch eingestuft, denn die Wahlen in der DDR waren eine Farce und der Kaiser wurde nicht gewählt. Das viktorianische Großbritannien dagegen würde in den Kategorien zwei und drei dagegen als demokratischer Zwitter eingestuft, denn die Königin wurde nicht gewählt, der Premierminister schon. Wohingegen der Deutsche Reichskanzler vom Kaiser eingesetzt wurde.

Variablen bei Polity IV

Es fällt auf, dass ein undemokratischer Staat wie das Deutsche Kaiserreich oder die DDR nicht bei jeder Variable schlecht abschneiden muss. Das ist aber durchaus gewollt und sinnvoll, so werden unterschiedliche Aspekte wie die (theoretische) Möglichkeit jedes Bürgers Staatschef zu werden und die Frage nach Wahlen nicht vermischt. Tatsächlich ist es auch sonst oft richtig verschiedene Aspekte in Statistiken nicht zu vermischen, was leider viele Laien nicht verstehen, wenn sie etwa kritisieren warum in der Arbeitslosenstatistik keine Geringverdiener auftauchen.

Demokratiemessung
Das Bundeskanzleramt in Berlin, Zentrum der exekutiven Macht in der Bundesrepublik. Bild: Bundesbildstelle

Die ersten drei Variablen bewerten vor allem den Wahlprozess, die nächsten die Macht der Regierung und die letzten beiden schließlich den politischen Wettstreit ganz allgemein. Auf Wikipedia ist aktuell (24.4.2017) von fünf Variablen die Rede, das ist falsch, es sind jene sechs oben beschriebene.

Streng genommen sind es sogar neun, denn neben den drei „Component Variables“ gibt es noch drei sogenannte „Concept Variables“. Wer beispielsweise den aktuellen Länderbogen zu Deutschland aufruft, erhält dort am Ende noch Fließtext zu Bestimmung des Regierungschefs, der Begrenzung der Macht der Exekutive und der politischen Partizipation. Auch hier wird aber jedes Land bei jeder Variable auch in eine Gruppe eingeteilt. Es handelt sich also um eine Mischung aus Typisierung und Freitext.

Das Ranking

Demokratie lässt sich also messen, wie gut werden wir beim nächsten Mal diskutieren. Insgesamt ist das Vorgehen natürlich mehr qualitativ als quantitativ. Während das Democracy Barometer relativ genaue Werte ausgibt, beispielsweise 63 für die Demokratie in Deutschland im Jahr 2014, begnügt sich Polity IV weiße auf die Vergabe von 21 Werten (-10 bis +10), die aus den einzelnen Variablen berechnet werden.

Die wiederum werden in drei beziehungsweise vier Gruppen unterteilt werden, nämlich Autokratie (-10 bis -6 Punkte), Anokratie (-5 bis +5)  und Demokratie (+6 bis +10), wobei die Anokratie wieder in eine offene (z.B. Nigeria. 1 bis 5 Punkte) und eine geschlossene (z.B. Tschad, -5 bis 0 Punkte) Variante unterteilt wird. In der grafischen Aufbereitung unterscheidet man noch Demokratie mit kleinen Schönheitsfehlern wie Frankreich (6 bis 10 Punkte) von vollwertigen Demokratien wie den meisten anderen Westeuropäischen Ländern (10 Punkte). In Frankreich stört die Forscher übrigens vor allem die zu geringe Einschränkung der Exekutivgewalt.

Mehr zu den einzelnen Ländern und der Entwicklung über die Zeit sowie den Grenzen des Verfahrens gibt es beim nächsten Mal, leider erst in zwei Wochen.

 

 

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