Kernenergie: Ausstieg oder Einstieg?

In einer Zeitschrift bin ich neulich auf eine bemerkenswerte Anzeige gestoßen. Sie zeigt Kamele in der Wüste und schreibt dazu: „Zähfließender Verkehr am Frankfurter Kreuz“. Es geht also um den Klimawandel. „Frankfurt wird in der Zukunft eine Wüste sein“, so die Botschaft.

Das wäre nicht weiter verwunderlich, wenn es nicht zwei Besonderheiten gäbe:

  1. Die Anzeige stammt aus dem Jahr 1990.
  2. Es handelt sich um eine Infokampagne der Informationszentrale der Deutschen Elektrizitätswirtschaft (IZE), die unter anderem die Akzeptanz von Kernkraft erhöhen sollte.
Informationskampagne des IZE aus dem Jahr 1990.

Ich möchte hier nicht in die Diskussion um Kernenergie nicht einsteigen, denn ich bin kein Spezialist und meine eigene Meinungsbildung zu dem Thema ist noch nicht abgeschlossen (ich finde allerdings, dass statt eines Atomausstiegs 2022 ein früherer Kohleausstieg sinnvoll gewesen wäre). Wer eine Pro-Atomkraft-Position lesen will, kann die beispielsweise bei Anna Veronika Wendland finden, die Gegenposition in fast jedem großen Medienprodukt.

Ich möchte mich – wie es der Name des Blogs verspricht – dagegen einer statistischen Frage widmen. Steigt die Welt aktuell aus der Kernenergie aus oder ein?

Unterschiedliche Entwicklung

Die Antwort lautet natürlich: Es hängt vom Land ab. Einige Länder bauen neue Kraftwerke, andere steigen aus. Auf Wikipedia hat man eine Weltkarte zu dem Thema erstellt. Sicher nicht ohne Hintergedanken sind aussteigende Länder in Grüntönen dargestellt, einsteigende und ausbauende dagegen in Rot.

Kernkraftwerk Isar. Bild von Ulrike Leone auf Pixabay 

Die spannende Frage lautet nun, welcher Trend überwiegt. Spannend ist dabei nicht so sehr die Zahl der Kraftwerksstandorte. Üblicherweise erfasst werden die Reaktoren, von denen mehrere an einem Standort stehen können. Das Kernkraftwerk Isar bestand beispielsweise bis zur Stilllegung von Isar 1 aus zwei Reaktoren, die auch noch unterschiedlicher Bauart waren. Isar 1 war ein Siedewasserreaktor, Isar 2 ist ein Druckwasserreaktor.

Aber auch Reaktoren können unterschiedliche Energiemengen produzieren. Daher habe ich auch Zahlen zur Stromerzeugungskapazität gesucht. Wie sieht dort der aktuelle Trend aus?

Der lange Trend

Bei der Internationalen Atomenergie-Organisation habe ich eine lange Zeitreihe zur Zahl der Reaktoren gefunden.

Der erste Reaktor wurde 1954 in Betrieb genommen, der zweite 1956. Ende der 1950er-Jahre gab es weltweit elf Reaktoren. Dann beschleunigte sich der Aufbau, in den 1960er-Jahren kamen 67 Reaktoren hinzu, in den 1970ern sogar 147.

Anstieg vor allem in den 1970er und 1980er-Jahren

Anders als ich erwartet hatte, wurden in den 1980er-Jahren besonders viele Reaktoren in Betrieb genommen, obwohl der Ruf der Kernenergie damals zumindest in der deutschen Öffentlichkeit schon auf dem absteigenden Ast war. Aber von der Beschlussfassung bis zur Inbetriebnahme dauert es ja ein paar Jahre und Deutschland ist, entgegen anderslautenden Behauptungen, nicht der Nabel der Welt. So kam es, dass von 1980 bis 1989 die Zahl der Reaktoren in Betrieb um 1.995 anstieg.

Zahl der Reaktoren weltweit steigt bis 1980 stark an, stagniert seitdem
Bis in die 1980er-Jahre stieg die Zahl der Reaktoren, seitdem hat sich die Kurve abgeflacht. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass es auch seitdem zunächst einen weiteren, leichteren Anstieg gab. Die höchste Reaktorzahl wurde aber erst 2018 erreicht.

Seitdem ist die Luft raus, in den 1990er-Jahren erhöhte sich die Zahl der Reaktoren in Betrieb nur um zwölf, im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends nur um fünf, im zweiten um sechs.

Statistik zeigt nur den Bestand

Das lag auch daran, dass gleichzeitig viele Reaktoren stillgelegt wurden. Die Statistik zeigt nur den Bestand. Ein Minus von einem Reaktor wie im Jahr 2020 kann bedeuten, dass gleichzeitig vier Reaktoren geschlossen und drei neu in Betrieb genommen wurden.

Das lässt sich allerdings an den Zahlen über „Reaktoren in Betrieb“ gut abschätzen. Ende 2020 waren zwar 442 Reaktoren in Betrieb und damit einer weniger als 2019, aber innerhalb des Jahres waren 448 Reaktoren in Betrieb. Warum? Weil 5 Reaktoren neu in Betrieb genommen wurden und sechs stillgelegt. Allerdings ist es auch denkbar, dass Reaktoren genau zum 1.1. in Betrieb genommen wurden oder zum 31.12. abgeschaltet wurden, die gehen uns hier durch die Lappen.

Das erste Minus gab es 1990

Das erste Jahr, in dem mehr Reaktoren stillgelegt als neu in Betrieb genommen wurden, war 1990. Das dürfte natürlich auch mit dem Wandel im „Ostblock“ zusammenhängen. Den höchsten Rückgang gab es 2019, als die Zahl der Reaktoren in Betrieb um sieben sank, nicht zuletzt wegen des Atomausstiegs in Deutschland.

Natürlich sind Stilllegungen nicht immer eine Folge eines Atomausstiegs. Manche Anlagen werden auch stillgelegt, um sie durch neue zu ersetzen.

Trend uneinheitlich

Betrachten wir nur das aktuelle Jahrtausend, stagnierte die Zahl der Reaktoren von 2000 bis 2013. 2013 war genau ein Reaktor weniger in Betrieb als im Jahr 2000. Dazwischen gab es einiges an Auf und Ab, wobei sich auch hinter diesen Veränderungen weitaus mehr Abschaltungen und Inbetriebnahmen verbergen.

Die Zahl der Reaktoren stagnierte von 2000 bis 2013, nahm dann bis 2018 deutlich zu und sinkt jetzt wieder.

Ab 2013 gab es bis 2018 dann ein deutliches Plus, trotz Stilllegungen in Deutschland und anderen Ländern. 2018 wurde mit 450 Reaktoren in Betrieb ein bisheriger Höchststand erreicht. Ein Gegenüber dem Jahr 2000 allerdings schwaches Plus von 15.

Insgesamt waren 2018 unseren Daten zufolge 457 Reaktoren in Betrieb. Das bedeutet, dass mindestens neun Reaktoren in Betrieb genommen und sieben abgeschaltet wurden, deshalb die Zahl am Ende des Jahres um zwei höher lag als 2017.

Besonders viele Reaktoren waren demnach 2011 und 2019 abgeschaltet worden, nämlich mindestens 13, wobei 2011 auch sieben neue hinzukamen, 2019 immerhin sechs.

Die Stromleistung

Spannender ist aber, wie sich die verfügbare Stromleistung entwickelt hat. Insgesamt gab es hier weniger Rückgänge, weil sich die Leistung je Reaktor erhöht hat. Sie stieg von 805 Megawatt im Jahr 2001 auf 900 Megawatt im Jahr 2000.

Die potenzielle Stromleistung hat sich seit 2001 nicht mehr so stark verändert wie in den Jahren zuvor. Sie stieg um 45,1 Gigawatt oder 12,8 Prozent.

Insgesamt betrug die Kapazität der Atomreaktoren im Jahr 2020 weltweit 397,8 Gigawatt. Ein Gigawatt entspricht bekanntermaßen 1.000 Megawatt. Im Jahr 2001 waren es 352,7 Gigawatt gewesen, ein Plus von 12,8 Prozent. Das hört sich nach viel an, entspricht aber nur 0,6 Prozent pro Jahr.

Ein genauerer Blick zeigt aber, dass es trotzdem kleinere Anstiege und Rückgänge gab. Die Grafik zeigt die gleichen Daten wie die darüber, hier ist aber die Achse bei 340 Gigawatt abgeschnitten.

Schneiden wir bei der Grafik die Achse ab, sieht man, dass es insgesamt etwas mehr auf und ab gab. In den Jahren 2007, 2012, 2014 und 2020 lag die Kapazität niedriger als in den Vorjahren, in den anderen Jahren gab es ein Plus.

Fazit

Wir können also zusammenfassen, dass die vergangenen 20 Jahre von gleichzeitigen Stilllegungen und Inbetriebnahmen von Reaktoren gekennzeichnet waren. Insgesamt wurden seit 2001 mindestens 95 Reaktoren stillgelegt. Ob wegen eines lokalen Atomausstiegs oder um sie durch neue zu ersetzen, wissen wir nicht. Gleichzeitig wurden 99 Reaktoren in Betrieb genommen, es gab also ein Plus von vier Reaktoren oder 0,9 Prozent.

Die potenzielle Leistung stieg etwas deutlicher, nämlich um 12,8 Prozent, was 45,1 Gigawatt entspricht.

2020 lag die mögliche Stromproduktion weltweit niedriger als ein Jahr zuvor, aber höher als vor fünf, zehn oder 20 Jahren. Wie es in der Zukunft weitergeht, wissen wir nicht. Entscheidend dürften dafür nicht nur politische Fragen sein, sondern auch ökonomische und technische. Wie günstig und wie zuverlässig werden Strom aus Wasser, Wind und Sonne zur Verfügung stehen?

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