Statistik in der Diktatur

Heute geht es mal um Geschichte. Nicht um historische Statistiken, sondern um die Historie der Statistik, genauer gesagt um die Volkszählung 1920 in Russland. Das Land war damals gerade sozialistisch geworden und der Vorsitzende des Rats der Volkskommissare, Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin.

Nach dessen Willen sollte 1920 in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) – die Sowjetunion wurde erst 1922 gegründet – eine Volkszählung stattfinden. Weniger verwunderlich ist, dass Lenin keine unabhängige Statistik wollte. Die Statistische Zentralverwaltung dürfe kein akademisches und unabhängiges Organ sein, schrieb er (allerdings erst 1922), sondern ein Organ des sozialistischen Aufbaus.

Allerdings ging es ihm dabei weniger darum, dass die Statistik die Daten zu produzieren habe, die Lenin hören wollte, wie es bei Stalin und Hitler oft war. Vielmehr war damit etwas gemeint, was dem heutigen Controlling sehr ähnelt. Die Ämter sollten nämlich zeigen, welche Betriebe und Regionen erfolgreich sind und diese lobend herausstellen, die schlechten dagegen an den Pranger stellen. Wichtig waren deshalb vor allem Statistiken zur Landwirtschaft, zur Industrie und zum Militär, aber beispielsweise auch eine Moralstatistik.

Flagge der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik bis 1937. Quelle: Wikipedia.org

Lenin hatte ziemlich konkrete Vorstellungen. Er wollte beispielsweise stets Vorjahresvergleiche, machte aber auch Vorschläge zu den Grafiken („Linien statt Würste“) und dem Tabellenaufbau.

Die Volkszählung 1920 hatte deshalb auch ganz klare Aufgaben. Beispielsweise herauszufiltern, wer nicht arbeitet. „Man muss systematisch solche überflüssigen Esser herausfischen, die das Grundgesetz verletzen: ‚Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen'“.

Die Volkszählung war Lenin daher sehr wichtig. So wichtig, dass jeder Statistiker, der die übertragenen Arbeiten ohne stichhaltige Gründe verweigert, als Deserteur zu betrachten sei, was die Todesstrafe bedeutete. Es ist daher wenig verwunderlich, dass Statistiker damals nicht zum Militärdienst einberufen werden durften, schließlich übten sie bereits eine gleich wichtige Tätigkeit aus.

Weil das Personal der Statistikbehörde nicht ausreichte, wurden auch andere Personenkreise definiert, die zur Volkszählung einberufen werden konnten. Dazu gehörten natürlich Statistiker in anderen Institutionen, Menschen die bestimmte Lehrgänge in Statistik besucht hatten und zu guter Letzt alle, die gedruckte Arbeiten über Statistik besaßen, beispielsweise ein statitsisches Fachbuch.

Die russische Volkszählung scheiterte trotzdem, nur rund zwei Drittel der Bevölkerung wurden erfasst. Und obwohl Lenin den Statistikern so hohe Bedeutung zumaß, sollte man sich nicht in die Statistische Zentralverwaltung jener Tage wünschen. Denn rund zwei Drittel der Zähler wurden umgebracht.

Nachtrag: Noch schlechter war das Statistiker-Dasein natürlich unter Stalin. Der führte 1937 ebenfalls eine Volkszählung durch. Die brachte auch Ergebnisse, aber keine die Stalin gefielen. Statt dessen zeigte sie den Bevölkerungsrückgang durch den stalinistischen Terror mit – einschließlich Hungertoten – vermutlich über 60 Millionen Opfern. Stalin reagierte wie gewohnt: Er lies die Organisatoren umbringen und die Ergebnisse geheim halten. Für die Volkszählung 1939 sorgte er vor: Vermutlich war die erhobene Bevölkerungszahl von 170 Millionen bereits vorher von ihm festgelegt worden.

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