Rente mit 70? (3)

Mehr als 40 Prozent der Deutschen über 60 sind erwerbstätig, sagt die Regierung. „Noch nicht einmal jeder Zehnte schafft es, bis zur Regelaltersgrenze in sozialversicherungspflichtiger Arbeit zu bleiben,“ sagen die Gewerkschaften. Was stimmt nun?

Zu letzterer Aussage kann man relativ einfach sagen: Sie ist falsch. Das private Forschungsinstitut infes hat mittlerweile endlich auf meine Anfrage geantwortet und sich zugleich von dem Satz distanziert. „Der Satz stammt […] nicht von [den inifes-Forschern] Bäcker/Kistler/Trischler, sondern vom Netzwerk selbst (DGB; Ingo Nürnberger)“, schreibt Prof. Dr. Ernst Kistler von inifes.

Hier kann man noch nicht einmal mehr von kreativer Interpretation statistischer Zahlen sprechen, sondern entweder von einem krassen Missverständnis oder sogar einer bewussten Lüge. Mal abgesehen davon, dass niemand weiß ob alle die vor 64 ihre Arbeit aufgeben „nicht durchhalten“ oder einfach keine Lust mehr haben, stimmten auch die zehn Prozent nicht. Sie beziehen sich nämlich keineswegs auf alle Personen, die in jüngeren Jahren sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, sondern auf alle 64-Jährigen. Darunter befinden sich aber auch Hausfrauen (und -männer natürlich), Beamte und Selbständige.

Stimmen als die 40 Prozent der Regierung? Eigentlich müsste es doch ganz einfach sein festzustellen, wie viele über 60-Jährige noch arbeiten. Doch die Sache hat einen Hacken. Genauer gesagt zwei. Der eine ist die geringfügige Beschäftigung. Mit ihr wird kein voller Rentenanspruch erworben. Mit einem relativ geringen Eigenbeitrag kann man zwar den vollen Anspruch erwerben, aber auch der ist bei einem Einkommen von maximal 400 Euro nicht gerade hoch.
Das zweite Problem sind die Beamten und Selbständigen. Die zahlen bekanntlich nicht in die Rentenkasse ein. Das wäre nicht tragisch, wenn sie genauso lange erwerbstätig wären wie die Angestellten. Es ist aber durchaus denkbar, dass beide Berufsgruppen länger im Job bleiben als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.Ich habe deshalb einen anderen Ansatz gewählt und mir von der Bundesagentur für Arbeit die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten eines Jahrgangs zu verschiedenen Zeitpunkten schicken lassen. Betrachtet man die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung kommt man zu einem deutlich anderen Ergebnis. Rund 20 Prozent der Beschäftigten, die mit 55 sozialversicherungspflichtig Beschäftigt waren, sind das auch mit 64. Die unten stehende Grafik gibt für drei verschiedene Altersgruppen den Anteil der im Alter von 64 an den im Alter von 55 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an.

Fairerweise muss ich auch hier auf ein paar Einschränkungen hinweisen:

  • Todesfälle sind nicht berücksichtigt. Uns interessieren ja nur die späteren Rentenbezieher. Würde man die Entwicklung der Beschäftigtenquote betrachten (also den Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an allen Personen der Altersgruppe), wäre die Entwicklung noch etwas günstiger.
  • Es ist denkbar, dass bereits mit 55 einige Personen aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Würde man die Entwicklung weiter zurückverfolgen, läge die Quote unter Umständen etwas niedriger.
  • Die Beschäftigten 2009 sind keine echte Teilgruppe der Beschäftigten im Jahr 2000. Streng genommen handelt es sich also nicht um eine Quote. Ein Teil der im Jahr 2009 sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer kann im Jahr 2000 noch arbeitslos, selbständig oder nicht erwerbstätig gewesen sein.
  • Offen bleibt weiterhin, warum die übrigen 80 Prozent nicht mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigt sind. Wollten sie nicht mehr sozialversicherungspflichtig arbeiten oder konnten sie nicht mehr? Oder sind sie möglicherweise Beamte oder Selbständige geworden?

Trotz all dieser Einschränkungen halte ich jedoch die von mir errechnete Quote für die Beschäftigung von 64-Jährigen für weitaus aussagekräftiger als die 40 Prozent der Regierung oder gar die zehn Prozent der Gewerkschaften.
Ebenfalls nicht beantworten kann ich hier die Frage, wie die geringfügige Beschäftigung zu bewerten ist. Denn das ist aber keine statistische Frage, sondern Glaubenssache und damit nichts für den Statistiker-Blog.

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1 Comment on “Rente mit 70? (3)

  1. Der DGB tut sich leider öfter als Zahlenfälscher hervor. Besonders sinnlos ist die aktuelle Auswertung über die Gehälter von Zeitarbeitern, bei denen die Einkommen von Zeitarbeitern denen von „normalen“ Tarifbeschäftigten gegenüber gestellt werden, ohne die Qualifikation zu berücksichtigen. Vergleichen kann man eigentlich nur Mitarbeiter gleicher Qualifikation. Das aber wurde aus Propagandagründen nicht gemacht. Wenn der DGB sich seiner Sache so sicher ist, warum braucht er dann solche Tricks?

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